Lesen gefährdet das Abitur
Lily-Braun-Gymnasium
 
 
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Ein Abistreich-Bericht von Theodor Ebert

Lesen gefährdet das Abitur

Verfasst von Theodor Ebert am 27.12.2009

Martin las wenige Bücher, am liebsten nur Anleitungen zum Bau technischer Geräte. Üblicherweise freuen sich die Eltern, wenn ihre Kinder Bücher lesen. Da leben die Kinder in ihrer Phantasiewelt – graben auf einer Schatzinsel oder sie sind mit Wolfsblut in Alaska unterwegs. Da kann praktisch nicht viel passieren. Doch wenn Martin mal zu einem Buch griff, führte dies vor Ort zu Experimenten. Das galt selbst für Klassiker der Jugendliteratur: Der Elfjährige liest Mark Twains „Tom Sawyer“ und alsbald verabredet er sich mit seinem Freund um Mitternacht auf dem Friedhof von Lichtenrade. Martins Eltern begriffen im Lauf der Jahre: Wenn Martin Bücher liest, heißt es aufpassen! Da brauen sich literaturpraktische Experimente zusammen!

Doch immer konnten sie nun mal nicht auf dem Quivive sein. Ahnungslos hatten die Eltern noch kurz vor Martins Abitur zusammen mit ihm auf der Couch gesessen und ferngesehen und sich mit ihm über die die x-te Wiederholung der „Feuerzangenbowle“ mit Heinz Rühmann als Schüler Pfeiffer mit drei f, „eins vor dem ei und zwei hinter dem ei“ amüsiert. Hätte nicht die Warnlampe blinken müssen, als Martin im Bücherregal sich Heinrich Spoerls Roman griff?
Was gab es da nach dem Film noch nachzulesen? Doch die Eltern dachten: Das Lesen kann seiner Deutschnote nur gut tun. In Mathe und Physik bekommt er zwar eine Eins, aber für Architekten gilt ein scharfer numerus clausus, und darum braucht der Junge eben auch die Literatur. Und Spoerl zu lesen, ist nun mal besser als gar nichts zu lesen. Und bei dieser Güterabwägung beließen es die Eltern.

Martin ging vom Lesen bald wieder zum Werkeln über. Er sägte im Keller Dachlatten zurecht. Alle hatten eine Länge von ungefähr 1.10 m. Doch anscheinend kam es auf feine Unterschiede an. Er maß die Längen genau ab und versah jedes dieser Hölzer am unteren Ende mit einem etwa 7-8 cm langen Fuß aus Zinkblech. An die oberen Enden der Stangen wurden rote Gummiringe genagelt, die eigentlich zu Weck-Einmachgläsern gehören. Als die Eltern fragten, was er hier vorhabe, mussten sie sich mit der Auskunft begnügen, es handle sich um eine Überraschung. Sie dachten an Requisiten für die Abiturfeier.

Eines Nachts, mitten in der Woche, verließ Martin, ohne dass die Eltern dies bemerkten, das Haus am Groß Glienicker See in Kladow. Er hängte sich eine Art Seesack um, groß wie ein Beutel für Golfschläger. In diesen hatte er dreißig der präparierten Vierkantstäbe gesteckt. Er radelte mit dieser Last zur Lily-Braun-Oberschule. Er sah niemanden in der unmittelbaren Nähe des mehrstöckigen Schulhauses, das im Kaiserreich gebaut worden war. Dieses frühere Mädchengymnasium liegt dem Spandauer Rathaus fast genau gegenüber und nur eine Häuserzeile trennt es von der großen, zentralen Polizeistation, vor der ein sattelloses und in seinen Proportionen missratenes Rösslein in Bronze sich auf den Hinterbeinen erhebt.

Martin gelangte über den Pausenhof und eine Regenrinne in den ersten Stock vor das Fenster, das er am Nachmittag fest in den Rahmen gepresst, doch unverriegelt hinterlassen hatte. Er stieg ein und zog den Sack mit den Holzstangen an einem Strick in die Höhe. Im Schein des Mondes fiel es ihm leicht, sich im Hause zu orientieren. In einer knappen Stunde war alles getan. In jedem Klassenzimmer waren nur wenige Handgriffe erforderlich. Er öffnete die Tür, klemmte die passende, stabile Latte unter die Klinke und befestigte mit der Gummilasche die Klinke an der Stange. Die Aufgabe des Zinkblechs am unteren Ende bestand darin, den Stab unverrückbar in Stellung zu halten, wenn er die Tür nun von außen zuzog. Alles passte, und Martin konnte nach vollbrachter Installation sich auf den Rückweg machen. Ohne die Last der Stangen radelte er nur zwanzig Minuten.

Martin hatte einen Tag gewählt, an dem er um 8 Uhr Unterricht hatte. Wie in der „Feuerzangenbowle“ ein Schild anzubringen mit dem Hinweis, dass die Schule wegen Bauarbeiten geschlossen sei, wäre als Täuschungsmanöver sofort durchschaut worden - selbst wenn es gelungen wäre, den Eingang zur Schule mit entsprechenden Baumaterialien zu dekorieren, was aber des Nachts ohne Aufsehen erregende Geräusche gar nicht möglich gewesen wäre. Darum setzte Martin nicht auf ein Täuschungsmanöver, sondern auf den Alleingang, die leisen Sohlen und eine rein mechanische Verhinderung des Unterrichts, denn dies war sein Ziel, sein Traum, es dem Schüler Pfeiffer gleich zu tun: Einen vollen Tag sollte der Unterricht ausfallen! Und er schien Erfolg zu haben. Als Schüler und Lehrer die Türklinken nach unten drücken wollten, blieben diese starr und die Türen geschlossen. Rütteln nützte nichts. Die Zinkfüße und die Gummilaschen taten ihren Dienst. Der Unterricht fand nicht statt. Jedenfalls nicht in der ersten Stunde.

Dann aber zeigte der Hausmeister seinerseits technisches Geschick. Die Türen waren im Laufe der Jahre und der Schüler- und Lehrergenerationen so oft zugeschmettert worden, dass die Rahmen ausgeleiert waren. Dem Hausmeister gelang es nach und nach mit dem Schraubenzieher den Türschnapper zu erreichen und ihn nach hinten zu schieben. Das brauchte zwar seine Zeit, denn diese Operation war an dreißig Klassenzimmern zu vollziehen, doch so allmählich kam der Unterricht in Gang.

Und die Folgen? Martin war beim nächtlichen Einstieg in das Schulhaus und auch beim Aufstellen der Stäbe nicht bemerkt worden. Doch man stelle sich vor, ein Polizist hätte den einsteigenden Jungen ertappt! Oder der Hausmeister hätte es nicht geschafft und ein Schlüsseldienst hätte die Schlösser öffnen müssen. Wäre das „ Zeugnis der Reife“ gefährdet gewesen? In diesem Alter denkt man so leicht: Mir wird schon nichts passieren!

Oder gibt es eine gewisse Narrenfreiheit für Abistreiche? Da hat der Direktor einen gewissen Spielraum. Im vorliegenden Fall wäre post festum nur noch ein Indizienbeweis möglich gewesen. Man musste kein Sherlock Holmes sein, um auf den wahrscheinlichen Täter zu kommen. So wie die Polizei früher, als es noch keinen genetischen Fingerabdruck gab, bereits an den Spuren des Schweißbrenners am Panzerschrank erkannte, wer hier wieder einmal sein handwerkliches Können unter Beweis gestellt hatte, so war unter den Abiturienten die Zahl derjenigen, die diesen Streich ausgedacht und bewerkstelligt haben konnten, sehr begrenzt und tendierte in Richtung eines Einzigen. Doch Kunstlehrer und Rektor hielten es für das Klügste, sich ahnungslos zu geben. Solange niemand Anzeige erstattete, stellte die Polizei auch keine Fragen. Er war kein Sachschaden entstanden, und beide Seiten hatten bewiesen, dass sie sich zu helfen wissen.

Martin berichtete nun auch seinen Eltern vom Abi-Streich. Diese atmeten erleichtert durch, blickten auf den Spoerl im Schrank und überlegten nun, von wem er diese handwerkliche Seite des Umgangs mit der Belletristik geerbt haben könnte. Sie waren stolz darauf, dass ihr Martin es im Alleingang fast geschafft hätte, die Schule dicht zu machen, und so kam es zu einem Wettbewerb zwischen Vater und Mutter um viel versprechende, technisch begabte Vorfahren. Die Mutter erinnerte an die Schmiedelehre ihres Vaters und dessen Aufstieg vom Ingenieur zum technischen Direktor einer landwirtschaftlichen Maschinenfabrik in Franken. Bei Lanz in Mannheim habe er den Kartoffelschleuderroder erfunden und weitere dreißig Patente angemeldet.

Da war es für Martins Vater, der nun wirklich den lieben langen Tag nur Bücher las und Papier beschrieb, sehr schwer mitzuhalten. Er musste eine weitere Generation zurückgreifen, episch ausholen, die eigenen Eltern, die Kaufleute waren, elegant überspringen und dann gleich zwei Urgroßväter ins Feld führen. Der eine sei Werkszimmermann bei der Weltfirma Bosch gewesen, habe in der Villa des alten Bosch in der Hauptmannsreute im Stuttgarter Westen Schränke eingebaut und sich mit dem Rahmen von Gemälden ein Zubrot verdient. Ja und der andere Großvater - und da sehe er eine deutliche Verbindung zu den Zinkfüßen an den Vierkanthölzern -, dieser Alfons Theodor Liebermann, dessen Vater Ernst in Tuttlingen im Schwarzwald eine Zeitung herausgegeben und darin die Zeitläufte kabarettreif bedichtet habe und zwar in Versen wie Wilhelm Busch, also dieser Alfons Theodor sei nicht nur ein erfolgreicher Ringer mit Medaillen aus Frankreich, sondern auch ein außerordentlich geschickter Feinmechaniker gewesen, der es sicher noch weit – und vielleicht auch zum Ingenieur und Erfinder - gebracht hätte, wenn er im Ersten Weltkrieg nicht in Russland erschossen worden wäre. Ein wahrer Jammer!
 



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